Eine kleine Seele

 

Es war einmal 'ne kleine Seele,

die dachte sich: "Wär' das nicht schön,

wenn ich jetzt nicht nur einen wähle;

ich würd' gern mit zwei Menschen geh'n".

 

Gewünscht, gedacht; gesagt, getan:

Sie schnappte sich zwei Kandidaten,

die sollten später erst erfahr'n,

dass sie nur aufeinander warten.

 

So teilte sie sich in zwei Stücke.

Doch als sie sich herniedersenkte,

da hinterließ sie eine Lücke,

als sie den beiden Leben schenkte.

 

Sie existiert in zwei Gestalten:

in einer Frau und einem Mann.

So ist die Seele zwiegespalten,

was jede Hälfte fühlen kann.

 

Denn jeder hat ein Loch im Herzen

mit der Gewissheit, dass was fehlt.

Der Wunsch, die Leere auszumerzen,

ist alles, was wahrhaftig zählt.

 

Denn beide sind zwei Puzzleteile,

die nur gemeinsam Sinn ergeben.

Allein ist jeder eine Zeile,

doch ein Reim braucht zwei zum Leben.

 

Der kleine Haken, der entsteht,

ist der Seelenspaltung Preis:

dass jeder seiner Wege geht

und gar nicht von dem ander'n weiß.

 

Zwar können sie den Mangel spüren

und die Unzulänglichkeit,

doch wissen's nicht zurückzuführen

auf die Ursache des Leids.

 

So leben beide vor sich hin

und denken sich: "Da stimmt was nicht.

Meinem Leben fehlt der Sinn.

Ich bin 'ne Lampe ohne Licht."

 

Die Seele fühlt voll Trotz und Wut

die eigene Zerrissenheit.

Dann packt sie sich all ihren Mut

und macht sich für den Schritt bereit.

 

Und eines Tages ist's soweit:

Zwei Augenpaare, die sich streifen,

und haargenau zur selben Zeit

das Glück des Augenblicks begreifen.

 

Sie sieht ihn und er sieht sie,

wie es sonst kein and'rer tat.

Sie sagen Dinge, die noch nie

ein anderer zu ihnen gesagt.

 

Sie wissen, wie noch nie zuvor:

"Durch dich werd' ich vollkommen.

Du bist das Schloss zu meinem Tor,

das jemand mir genommen.

 

Mein Diamant, der immer glänzt.

Du füllst in mir den leeren Platz.

Du bist der Teil, der mich ergänzt.

Du bist des Lebens größter Schatz."

 

Sie steh'n zusammen auf der Veranda

und mustern sich für eine Weile.

Und dann berühren sie einander.

Jetzt ist die Seele wieder heile.

 

Das schöne Märchen endet hier,

weil niemand so viel Kitsch erträgt,

weil uns das Leben, so scheint mir,

mit anderen Geschichten prägt.

 

Denn meistens läuft's ungefähr so:

"Ich liebe dich mehr als mein Leben!

Ich war noch nie so herzensfroh!

Magst du mir eine Antwort geben?"

 

Und dann wartet man 'ne Nacht,

vielleicht mit 1-2 Flaschen Wein.

"Hey du, ich hab' viel nachgedacht.

Lass uns einfach Freunde sein."

 

Das kann man niemandem verdenken.

Man wird vor sowas nicht gewarnt.

Wem wir uns're Gefühle schenken,

ist meistens ungeplant.

 

Das ist nun mal der Lauf des Lebens.

So gibt es immer die Gefahr,

dass man liebt und hofft - vergebens.

Doch manchmal ... werden Märchen wahr.

 

 

 

                                                           Judith Leja

                                                              Juni 2015